Daisetz T. Suzuki
Koan - Der Sprung ins Grenzenlose
1. Irrationalität
Damit meine ich, daß man zum Satori nicht durch Schlußfolgerungen gelangt und daß es sich aller intellektuellen Bestimmungen entzieht. Alle, die Satori erfahren haben, fanden sich außerstande, es
logisch und schlüssig zu erklären. Sobald es erklärt wird, sei es in Worten oder Gesten, wird es mehr oder weniger stark entstellt. Wer es noch nicht erfahren hat, kann es nicht anhand von irgend
etwas äußerlich Sichtbarem erfassen. Wer es erfahren hat, weiß das Echte vom Unechten zu unterscheiden.
2. Intuitive Einsicht.
Daß mystischer Erfahrung eine noetische Qualität eignet, hat William James in seinem Buch "Die Vielfalt religiöser Erfahrung" aufgezeigt, und es gilt auch für die Zen-Erfahrung, die "Satori" genannt
wird. Ein anderer Ausdruck für Satori (wörtl.: "Erkennen") ist Kenshō (chin. chienhsing), "Wesensschau", und dieser Begriff scheint zu besagen, daß es im Satori ein Sehen oder Wahrnehmen gibt. Daß
dieses "Sehen" jedoch von ganz anderer Art ist als das, was wir normalerweise unter "Erkennen" verstehen, muß nicht eigens hervorgehoben werden.
3. Unabweisbarkeit
Das im Satori verwirklichte Erkennen ist endgültig, durch keine logische Argumentation zu widerlegen. Es ist direkt und persönlich und von unabweisbarer Evidenz. Die Logik vermag hier nichts mehr zu
erklären; sie kann nur versuchen, dieses Erkennen vor dem Hintergrund unserer Vernunfterkenntnis zu interpretieren. Satori ist also eine Form der Wahrnehmung, eine innere Wahrnehmung, die im
innersten Bewußtsein stattfindet. Daher dieser Geschmack von Unabweisbarkeit und Endgültigkeit. Zen, so heißt es, ist wie Wassertrinken: Man weiß selbst, ob es warm oder kalt ist. Und wer die
Erfahrung nicht selbst macht, kann über sie nicht urteilen.
4. Bejahung.
Was unabweisbar und endgültig ist, kann niemals negativ sein. Verneinung hat keinen Wert für unser Leben, führt uns nirgendwohin; sie ist keine Kraft, die vorwärtsdrängt, und sie bietet keinen
Ruhepunkt. Obgleich der Satori-Erfahrung manchmal auf negative Weise Ausdruck gegeben wird, ist sie in ihrem Wesen eine bejahende Einstellung gegenüber allen existierenden Dingen; sie akzeptiert sie
so, wie sie sich bieten, ganz unabhängig von ihrem moralischen Wert. Im Buddhismus nennt man dies kshānti, "Geduld" oder besser "Annehmen" - das Annehmen der Dinge in ihrem über-relativen oder
transzendenten Sein, worin keinerlei Dualität besteht.
5. Das Ganz-Andere.
Die Terminologie mag in den verschiedenen Religionen unterschiedlich sein, doch in einer Erleuchtungserfahrung ist immer das, was wir - so wertfrei wie möglich - als "Empfinden des Ganz-Anderen"
bezeichnen könnten. Die Erfahrung ist gewiß meine eigene, doch ich empfinde, daß sie in etwas anderem wurzelt. Die individuelle Schale, in die ich so fest verkapselt bin, zerbirst im Augenblick des
Satori. Es muß nicht unbedingt so sein, daß ich mich mit einem höheren Wesen vereinige oder in ihm aufgehe; aber meine Individualität, die sich strikt gegen alle anderen Einzelexistenzen abgegrenzt
hatte, lockert irgendwie ihr verkrampftes Festhalten an sich selbst und schmilzt in etwas Unbeschreibliches ein, das von ganz anderer Art ist als alles, was ich gewohnt bin. Dem folgt ein Gefühl von
Erlösung, von vollkommener Ruhe - das Gefühl, man sei endlich am Ziel angekommen. "Heimkommen und still ruhen" lautet der Ausdruck, der im Zen dafür gebraucht wird.
6. Unpersönlichkeit.
Das Bemerkenswerteste an der Zen-Erfahrung ist vielleicht, daß sie keine persönliche Färbung aufweist, wie wir sie etwa bei der mystischen Erfahrung im Christentum antreffen. Im buddhistischen Satori
deutet nichts auf solche persönlichen und häufig erotischen Gefühle hin, wie sie uns aus den folgenden Ausdrücken entgegenschlagen: Flamme der Liebe, Umarmung, Geliebter, Braut, Bräutigam, geistige
Ehe, Gottvater, Gottes Sohn und so weiter. Man kann natürlich sagen, daß all diese Ausdrücke Interpretationen aufgrund eines bestimmten Denksystems sind und nichts mit der Erfahrung selbst zu tun
haben. Jedenfalls aber ist Satori in Indien, China und Japan vollkommen unpersönlich geblieben, etwas, das eher dem Bereich des reinen Intellekts zugehört als dem der Person.
7. Gefühl der Erhobenheit
Kein Satori, das nicht von diesem Gefühl begleitet wäre, denn schließlich wird hier alles Beengende aufgesprengt, das uns durch den Glauben an unsere Individualität auferlegt war; und dieses
Aufbrechen ist kein negatives Geschehen, sondern ein sehr positives, denn es bedeutet eine unendliche Weitung des Individuellen. Die nicht immer bewußte Unterströmung aller unserer
Bewußtseinsfunktionen besteht in einem Gefühl von Beschränkung und Abhängigkeit, denn das Bewußtsein selbst ist das Produkt zweier Kräfte, die einander bedingen und beschränken. Satori besteht dem
gegenüber wesenhaft darin, daß alle Gegensätze ausgeräumt werden, welcher Art sie auch sein mögen - und diese Gegensätzlichkeit, wie gesagt, ist das Prinzip des Bewußtseins, während Satori das
Unbewußte realisiert, das über allen Gegensätzen steht.
8. Augenblickscharakter
Satori kommt jäh über uns und ist eine Augenblickserfahrung. Wenn es sich nicht plötzlich und in einem Augenblick ereignet, ist es nicht Satori. Diese Plötzlichkeit ist charakteristisch für Hui-nengs
"südliche Schule" des Zen, während sein Gegenspieler, Shen-hsiu, auf der allmählichen Entfaltung des Zen-Bewußtseins beharrte. Die plötzliche Satori-Erfahrung eröffnet in einem Augenblick einen
vollkommen neuen Ausblick, und das gesamte Dasein stellt sich unter einer ganz neuen Perspektive dar.